Die meisten zogen die Stirn in Falten oder hatten zumindest ein riesiges Fragezeichen im Gesicht, als ich von meinen Reiseplänen ins winterliche Norwegen erzählte. Wenn schon Urlaub im Januar, ziehen die meisten die wärmeren Gefilde vor, fliehen vor Kälte und Dunkelheit, statt sie zu suchen. Ich war selbst gespannt, wie ich die Dunkelheit im norwegischen Winter empfinden würde, ob sie mich beeinflusst, mich müde oder traurig stimmt. Immerhin vier volle Tage Polarnacht erwartete ich während meiner Reise und auch die restlichen Tagen sollten – so ließen es jedenfalls die Zeiten zwischen Sonnenauf- und -untergang vermuten – nicht viel heller sein. Je nach Breitengrad oftmals nur ein oder zwei Stunden.

Vor meiner Abreise hatte ich einiges über die mørketid, die Polarnacht, gelesen, über das mystische bläuliche Licht und die romantische Atmosphäre. Immer wieder las ich, dass es auch während der Polarnacht nie ganz dunkel wird. Zu Beginn der Reise ähnelte die Stimmung allerdings dem norddeutschen Winter: Regen, Wind, etwa sechs, sieben Grad  – die grauen Felsen, an denen wir vorbeifuhren, sahen in diesem Licht nicht sehr ansprechend aus. Das jetzt auch noch im Dunkeln? Ein wenig verlockender Gedanke.

Nördlich des Polarkreises wandelte sich das Bild:  es kamen „Dunkelheit“ und Schnee. Den ersten Hafen oberhalb des Polarkreises, Ørnes, erreichten wir morgens gegen neun Uhr; beim Anlegen deutete sich der Tagesanbruch bereits an. Der Himmel über den verschneiten  Bergen schimmerte bläulich. War das das vielzitierte mystische Dämmerlicht?

Bauschige Wattewolken zogen über uns hinweg und streiften dabei die Bergspitzen, hinter denen die Sonne aufzusteigen schien. Am Horizont bildete sich ein heller Streifen, ganz so, als würde jeden Augenblick die Sonne über die Felsformation blinzeln und ihre Strahlen nach uns ausstrecken. Gespannt starrte ich zu dem hell anmutenden Fleck und wartete auf diesen einen Moment, in dem das erste Gelb-Rot auf meine Augen trifft und sie blendet. Doch mein Warten war vergebens. Die Akteure am Himmel schienen in ihren Positionen zu verharren, als würden sie festklemmen, irgendwo zwischen Nacht und Bergkamm. Über Stunden ging das Schauspiel. Es dämmerte und dämmerte, wurde zunehmend heller, auch wenn sich die Sonne nicht blicken ließ, und erinnerte mich an die Suche nach dem Ende des Regenbogens. In Kinderbüchern wird davon geschrieben, wie sich der Protagonist auf die Reise zu dem Ort macht, an dem die bunten Farben auf die Erde treffen, nur um am Ende festzustellen, dass es diesen Ort nicht gibt. In den Kinderbüchern ist natürlich der Weg das Ziel und am Ende steht trotzdem ein meist moralisches Ergebnis dieser Suche.

Wie die abenteuerlustige Hauptfigur in diesen Büchern wäre auch ich am liebsten einfach losgewandert, wäre mit der Leichtigkeit einer Feder von Bord gesprungen und flink über die Berge geklettert, um der Sonne, die irgendwo dahinter festsitzen musste, über den Horizont zu helfen. Vermutlich hätte ich unterwegs noch jede Menge Freunde gefunden: einen neugierigen Hasen, einen schwungvollen Adler und einen verträumten Regenwurm mit einer Vorliebe für junge Löwenzahnblätter. Gemeinsam wären wir zur Sonne gewandert, hätten erst ein ausführliches Gespräch mit ihr gehabt und sie dann mit vereinten Kräften aus ihrer misslichen Lage befreit. Auf der letzten Buchseite hätten wir ein großes Fest gefeiert, bei der die Sonne mit ihrem fröhlichen Gesicht warm über uns gezeichnet worden wäre.
Natürlich weiß ich, dass die Sonne nicht hinter dem Berg festklemmte, sondern das Schauspiel ein Ergebnis von Rotation und Krümmung der Erde ist! Daher bin ich auch nicht über Bord gesprungen 🙂

Je weiter wir gen Norden kamen, desto weniger Tageslicht zeigte sich. Aber auch wenn laut Kalender die Sonne gar nicht mehr aufging, war es mehrere Stunden taghell. Besonders beeindruckend zeigte sich die Polarnacht bei unserer Stippvisite in Hammerfest, wo wir mit unserem Tourguide Katja im Eis wanderten.

Während der Wanderung begleitete uns wieder der rot-violette Schimmer am Himmel und  mit dem Licht stieg in mir erneut der Impuls auf, loszusprinten und dem freundlichen Feuerball über die Berggipfel zu helfen. Trotz offizieller Nacht brauchten wir keine Lampe, um durch den Schnee zu wandern. Es war so hell wie bei uns gegen drei Uhr an einem Januarnachmittag. Dazu leuchtete das Licht so verwunschen wie zu der schönsten Blauen Stunde, die Du Dir vorstellen kannst. So hatte ich mir die Dunkelheit im winterlichen Norwegen nicht vorgestellt.

Als unser Schiff wieder abgelegt hatte und Hammerfest am Horizont immer kleiner wurde, zauberte die Sonne von ihrem „Versteck“ aus ein Farbenrausch an den Himmel. Sie kitzelte die Wolken von unten, tünchte sie in rot-violette Farben, als würde sie uns einen lieblichen Gruß hinaufschicken, als kleinen Trost dafür, dass wir auf sie verzichten müssen. Wie verzaubert stand ich warm eingepackt an Deck und sehe verträumt in den „Mittagshimmel“, sehe die schneebedeckten Berge an uns vorüberziehen, über denen ein blau-violetter Schleier steht. Stundenlang könnte ich das Schauspiel beobachten. Immer tiefer wird das Violett, dunkler der Himmel. Langsam, ganz langsam legt sich das weiche Blau der Nacht, die um diese Jahreszeit bereits am Nachmittag beginnt, über uns.