Manchmal beginnt es an einem Hauseingang, meistens startet die kleine Episode allerdings an der Ampel. Es ist rot, die Fußgänger bleiben brav am Kantstein stehen und warten, teilweise ungeduldig, darauf, dass das kleine grüne Männchen hell aufleuchtet. Kaum auf grün umgesprungen, sprinten die Fußgänger zeitgleich Richtung andere Straßenseite, als sei es das rettende Ufer im Großstadtdschungel. Und immer wieder liegen zwei „Kontrahenten“ bei diesem „Fußweg-Rennen“ gleichauf. Würde die Szene von einem Sportmoderator per Satellit verfolgt, er hätte sicher seine helle Freude daran, das Kurzspektakel in hektische Worte zu fassen.

Ein Sportreporter dreht auf!

Wer behält die Nase vorne und zieht als Erster in die nächste Rechtskurve ein, die am Ende der Geraden unausweichlich auf die Fußläufer zukommt? Die Dame mit dem wehenden Trenchcoat und den beigen Wildlederstiefeletten? Oder kann der dynamische Mitdreißiger mit seiner schnittigen Gelfrisur und gepflegtem Dreitagebart das Rennen für sich entscheiden? Noch liegen sie gleichauf, die Rechtskurve kommt immer dichter! Welche Fußspitze wird zuerst in die Kurve einbiegen? Oh, ein neuer Kontrahent kommt ins Spiel und mischt den Zweikampf von hinten auf. In galanten Bögen nähert er sich mit seinem Laufrad den beiden Fußläufer. Wer ist der geheimnisvolle Dritte, der dieses morgendliche Fußweg-Rennen für sich entscheiden könnte? Ist es ein Junge oder ein Mädchen? Er oder sie hält die Identität geschickt unter dem großen Fahrradhelm verborgen, die bunten Marienkäfer darauf sorgen für zusätzliche Irritation. Nur noch wenige Schritte bis zur Kurve. Wer wird die erste Etappe gewinnen? Und da, ja, der Laufrad-Knirps schiebt sich auf die Zielgerade, zieht an den Kontrahenten vorbei, geht erst innen an der Frau mit dem wehenden Trenchcoat vorbei und mit einem eindrucksvollen Schwungbein holt er die letzten Sekunden raus und rast an der dynamischen Gelfrisur vorbei. Er ist im Ziel! Er hat es geschafft! Sieg für den Knirps mit dem Marienkäferhelm!

Wer läuft denn da? Lohnt sich der gemeinsame Weg?

Wer selbst „mitten im Rennen“ ist, hat andere Dinge als einen imaginären Sportreporter im Kopf bzw. Ohr! Im Wesentlichen sind zwei Fragen interessant: Wer läuft da neben mir? Ist mir die Person sympathisch und möchte ich das zufällige „Miteinander-gehen“ für einen kleinen Smalltalk nutzen? Ja, das kann sich lohnen; auf jeden Fall ergeben sich oft spannenden Gespräche!
Die zweite vorherrschende Frage stellt sich, wenn die Person eher Unbehagen in einem auslöst, der aufsteigende Parfümnebel in den Augen brennt oder einem unaufhaltsam Zigarettenrauch in die Nase weht. Wie leite ich möglichst galant mein Überholmanöver ein? Zunächst muss die Schnelligkeit ausgelotet werden? Gehe ich selbst schneller? Komme ich zügig vorbei, ohne wie eine Dampflock schnaufend bei halbem Überholmanöver ins Stocken zu geraten?

Wo will Onkel Otto hin?

Wenn die Antwort auf „vermutlich geht es nur als Dampflock“ ausfällt, kommt die Taktik ins Spiel: Sieht die Person vor mir so aus, als würde sie demnächst abbiegen? Vielleicht an der nächsten Kreuzung direkt vor uns? Oder will sie vielleicht in die Apotheke, die in Sichtweite auftaucht? Es ist ein wenig wie die Frage in dem Pixibuch „Da geht Onkel Otto“. Das Buch habe ich als Kind geliebt – und kann die einzelnen Seiten heute noch auswendig, obwohl das quadratische Büchlein längst als verschollen gemeldet ist. Viele werden den sympathischen Bartträger mit den blonden Wuschelhaaren und dem roten Schal noch kennen und auch die Frage, wo er denn nun hinläuft: in den Blumenladen oder doch in den Park zum Entenfüttern?

Alles hat ein Ende

So spontan diese Begegnungen und „ein Stück gemeinsam des Weges gehen“ begonnen haben, so abrupt enden sie meist. Einer biegt ab oder wechselt die Straßenseite, verschwindet in einem Hauseingang oder Ladengeschäft. Nutzen wir doch diese kleinen Momente, für ein kleines Gespräch, einen Gruß oder wenigstens ein Lächeln. Denn wie sagte schon meine Deutschlehrerin mit den roten Schuhen immer: „Man kann nicht nicht kommunizieren!“