Aus einiger Entfernung schiele ich in das rundliche Astloch, während ich auf der Leiter stehe und versuche, mich einigermaßen vor den herabfallenden Regentropfen zu schützen. Liegt denn überhaupt ein Brief darin? Es liegt. Und nicht nur einer. Neugierig greife ich nach ihnen und ziehe den Stapel Papier heraus. Die gefalteten Zettel und Umschläge sind feucht, einige ziemlich aufgeweicht, daher bin ich vorsichtig und greife einen nach dem anderen. Heute muss ich keine Sorge haben, dass ich jemanden aufhalte oder Leute hinter mir ungeduldig auf und ab laufen, weil sie auch mal auf besagte Leiter klettern und in das Astloch schauen möchte. Bei diesem norddeutschen Schietwetter stehe ich alleine im Wald, habe die Bräutigamseiche ganz für mich alleine. So sieht auch keiner, dass ich auf den nassen Holzbrettern, mit dem der Weg zur Leiter verlegt ist, ins Rutschen gerate 🙂


Die über 500 Jahre alte Eiche im Dodauer Forst bei Eutin ist trotz ihres hohen Alters eine kleine Berühmtheit. Sie hat sogar eine eigene Adresse, die der Briefträger regelmäßig anfährt und beliefert. Ihre Geschichte als „Briefversteck“ geht über ein Jahrhundert zurück – und ist damit ein wunderbares Ziel meiner diesjährigen Sommerserie „Ostsee“!

Natürlich fing alles mit einer unglücklichen Liebesgeschichte an. Damals, um 1890. Die Tochter des hiesigen Oberförsters Ohrt soll sich, so besagt es die Überlieferung, in den Sohn eines Schokoladenfabrikanten aus Leipzig verliebt haben; ganz zum Missfallen ihres Vaters. Heimlich schrieb sich das Paar Briefe, die sie über das Astloch der Eiche austauschten – und am Ende siegte die Liebe! Förstertochter und Fabrikantensohn heirateten am 2. Juni 1891 unter den leuchtend grünen Blättern der „Bräutigamseiche“.
Da geht einem doch das Herz auf 🙂

Nach diesem Happy End stand dem Erfolg der Eiche als „Liebesbotin“ nichts mehr im Weg! Immer öfter nutzen Verliebte das Astloch, um ihre heimlichen Liebesschwüre auszutauschen. 1927 wurde die erste Leiter aufgestellt und die Post begann, Briefe hierher zuzustellen. Wie viele schöne Geschichten könnte die Eiche wohl erzählen?

Eine dieser vielen Geschichten ist vielleicht die zweier Unbekannter. Sein Brief wurde in Freiburg abgestempelt, Namen gibt es nicht, nur zwei Fotos, die auf den Umschlag gedruckt sind. Ob der inzwischen arg durchweichte und mitgenommene Brief sie je erreichen wird? Zögerlich ziehe ich den Zettel heraus; irgendwie fühlt es sich seltsam an, die Nachrichten anderer zu lesen, aber an dieser speziellen Postadresse ist das Briefgeheimnis aufgehoben. Also lasse ich meiner Neugier freien Lauf und lese: „Liebes Frauchen, eigentlich sucht über diese Eiche ein Mädchen oder ein Junge einen Partner. Das brauchen wir zum Glück nicht mehr. Mein Wunsch daher: Noch viele, viele Jahre glücklich sein!!“ Ich drücke ihnen von Herzen beide Daumen!


In dem Stapel von Briefen, den ich gerade aus dem natürlichen Briefkasten gezogen habe, liegt auch der von Mette und Maja. „Wir hätten gerne einen netten Brief von dir an uns“, steht in pinkem Filzstift und Kinderschrift geschrieben, dazu ihre Adresse in der Nähe von Büsum. Sympathisch. Vielleicht schreibe ich ihnen eine Karte, einfach so, aus Spaß.

Briefe schreiben ist schließlich etwas Schönes. Oder vielleicht eher, selbst Briefe zu bekommen? 😉 Mein Herz macht jedes Mal einen kleinen Hüpfer, wenn zwischen Rechnungen, Werbemailing und Versandkatalog ein lieber Brief einer Freundin oder eine bunte Grußkarte aus dem Urlaub liegt. Nein, kein „früher war alles besser“, denn E-Mails sind eben einfach schnell und deshalb praktisch. Aber mit der Herzlichkeit eines handgeschriebenen Briefes können sie es nicht aufnehmen.

Elegantes Büttenpapier in cremeweiß. Oder lieber ein wenig bunter? Mit rosa Einhörnern am Rand oder eine Pirateninsel mit gut gefüllter Schatzkiste am unteren Ende? Früher – und jetzt ist es doch da, dieses Wort, in dem so etwas mitschwingt wie „die guten alten Zeiten“ – hatte ich für jede Gelegenheit das passende Briefpapier, die passende Karte, viele über „Denys Dreamcollection“ erworben; ein Bestellheftchen, das Ende 1980er Jahre vermutlich durch jede Schulklasse waberte 🙂

Einen im Sonnenuntergang durch die Lüfte springenden Delfin mit roten Herzen umrandet ziert meine Karte, die ich in die Bräutigamseiche einwerfe, allerdings nicht! Aber eine kleine Nachricht mit einem Gruß für nachfolgende Besucher lasse ich hier.

Auch ohne die Briefe zu lesen ist die Bräutigamseiche ein schönes und daher beliebtes Ausflugsziel im Kreis Ostholstein. Wer mit dem Auto anreist, biegt von der B76 zwischen Eutin und Plön auf eine kleine Nebenstraße Richtung Dodauer Forst ein. Einige Meter weiter kann man parken und geht ein kurzes Stück zur alten Eiche. Viel schöner ist es aber, den Weg hierher zu radeln. Von Eutin aus dauert die Fahrradtour eine gute halbe Stunde, geht meist vorbei an etwas Grün und durch den Wald.


So schnell läuft die Zeit: Der nächste Teil meiner Sommerserie geht am 1. Oktober online – und ist somit auch schon der letzte der Saison. Nach viel Grün, Wiesen und Wäldern der jüngsten Ausflüge steht für das nächste Mal wieder ein urbanes Ziel auf dem Programm! Für den Saisonabschluss geht es auf den Spuren des Löwen durch die wunderschöne Stadt Ratzeburg.

Alle bisherigen Impressionen meiner Sommerserie zur Ostseeregion findest Du in meinen Fotowelten/Sommerserie. Viel Spaß beim Stöber.

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