891 Quadratkilometer, über 3,7 Millionen Einwohner und jährlich fast 13 Millionen Touristen: In unserer Hauptstadt gibt es viel zu entdecken! Aber wo anfangen? Da Berlin ohnehin keine Stadt ist, die an einem Tag oder einem Wochenende in Gänze zu erfassen ist, halte ich diesmal wie die Tatort-Kommissare: erst einmal am „Tat-Ort“ ankommen, sich orientieren und die Lage erkunden. So ist mein erster Weg, als ich am Berliner Hauptbahnhof ankomme, die Tourist-Info: einen Stadtplan organisieren und  orientieren. Von hier zieht es mich als Küstenkind Richtung Wasser, also ans Ufer der Spree.
Ich spaziere den Fluss entlang, auf dem ein Ausflugsschiffchen nach dem anderen an mir vorbeizieht, passiere die Regierungsgebäude, den dazugehörigen blaugetünchten Kindergarten, und den Tränenpalast, heutiges Museum und ehemals Ausreisehalle der Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße.

Bücher, Schallplatten, Taschen und Lederjacken – auf dem Weidedamm ist Straßenflohmarkt, aber die mäßig präsente Käuferschaft hält sich vornehm zurück. Vielleicht ist das Sofa heute einfach verlockender als unter einer dichten Wolkendecke von Verkaufsstand zu Verkaufsstand zu tingeln.

Verwöhnt von diesem sonnigen, heißen Sommer kommt mir der Tag heute als grau-in-grau vor; zumindest ist es spätsommerlich warm und die meiste Zeit trocken. Nur einmal fallen dickere Tropfen vom Himmel, purzeln auf die bunten Regenschirme, die die Touristen im Lustgarten beim Berliner Dom schnell aufgespannt haben. Der Schauer ist aber nach wenigen Minuten schon wieder vorbei. Dennoch ist heute für Berliner Maßstäbe wenig los in der Stadt. Lediglich um den Dom herum tummeln sich mehr Touristen, die hier aus ihrem Ausflugsbus steigen und die berühmte Museumsinsel erkunden. Allen voran das Pergamonmuseum, den Berliner Dom und das Alte Museum, das mit seinen imposanten Säulen und Statuen alleine schon ein Erlebnis ist.
Ich lasse die Touristen auf der Museumsinsel zurück und schlendere weiter, am Auswärtigen Amt vorbei und der Jungfernbrücke von 1798, die Spree dabei immer fest an meiner Seite 🙂

In Berlin ist unsere Geschichte allgegenwärtig

Mehr als rechtzeitig habe ich das Ziel meines Spazierganges am Märkischen Ufer erreicht. Von hier soll die Brückentour auf der Spree starten – aber noch ist die ältere Dame hinter der Glasscheibe von dem kleinen Kassenhäuschen zurückhaltend. „Ich habe noch keine Anmeldung für die Tour und wir fahren erst ab fünf Personen“, lautet ihr wenig freundlich klingender Kommentar. Ich solle später wiederkommen: „Vielleicht kommt ja noch jemand.“ Aber bei dem Wetter… Mit einem kaum merklichen Kopfschütteln schielt sie aus ihrem kleinen Fenster Richtung bedecktem Himmel. Aber so schnell lasse ich mich nicht entmutigen. Schließlich ist Sonntag und irgendwie haben wir ja auch noch Sommer. Also abwarten.

In der Wartezeit streife ich in der Umgebung umher, schlendere die Heinrich-Heine-Straße entlang. Hier war zu Zeiten der deutsch-deutschen Teilung ein großer Grenzübergang zwischen Ost- und Westberlin. Auf Infotafeln lese ich über die tragische Vergangenheit. Denn an diesem Teil der Grenze wurde im April 1962  Klaus Brüske erschossen, als er mit dem Auto die Sperre durchbrach. Ebenfalls tödlich endete, so lese ich auf der Tafel, ein Fluchtversuch aus der damaligen DDR Weihnachten 1965. Heinz Schöneberger stirbt. Den Freiheitswillen und die Verzweiflung der Menschen, die lieber den Tod in Kauf nehmen, als weiter in einem Land zu leben, in dem sie sich unfrei, unterdrückt und missverstanden fühlen, ist auch nach all den Jahren spürbar. Zumindest für einen Moment. Wenn man über die Geschichte liest und dann – mit einer Leichtigkeit, die fast surreal wirkt – über die kleinen Pflastersteine läuft, die heute den Verlauf der ehemaligen innerdeutschen Grenze nachzeichnen. Wäre ich so mutig gewesen, die Flucht aus der DDR zu versuchen? Oder hätte ich mich mit dem System arrangiert? Wäre ich mit dem Strom geschwommen, um möglichst nicht anzuecken, nicht aufzufallen?

Von Brücke zu Brücke auf der Spree entlang

Eine Weile begleiten mich diese Fragen, diese Gedanken. Als ich wieder am Schiffsanleger stehe, wird meine Aufmerksamkeit jedoch auf eine andere, weit weniger dramatische Frage gelenkt: Fährt das Schiff? Haben sich noch andere Berlinbesucher gefunden, die trotz des mäßigen Wetters Lust auf eine Tour auf der Spree haben? Noch sieht es mau aus. Nur zwei Frauen stehen am Ufer und hoffen wie ich auf eine Abfahrt. Weiter warten. Und so langsam trudeln immer mehr Fahrgäste am Anleger ein. Am Ende sind wir etwa 25 Leute – dann kann es ja losgehen!

Drei Stunden schippern wir gemächlich über Spree und Landwehrkanal, vorbei an Pankow, Kreuzberg, Tiergarten und dem Regierungsviertel, wir sehen ehemalige Fabrikgebäude, Wohnviertel und Hotels. Immer wieder ertönt das Warnsignal, nach dem das Aufstehen auf dem Oberdeck ausgesprochen schmerzhaft enden kann, da die Brücken, unter denen wir hindurchfahren, arg niedrig sind. Zwei Mal rutsche ich auf meinem Stuhl etwas weiter nach unten, weil mir die Eisenbögen der Brücke allzu dicht erscheinen; aber alles passt, niemand stößt sich den Kopf.
Herbstlich ist es geworden. Auch die Bäume hier an Spree und Kanal sehen mitgenommen aus; der sonnenreiche, heiße Sommer hat ihnen ordentlich zugesetzt. Müde lassen sie ihre vertrockneten Blätter hängen, einige bereits gelb, einige braun gefärbt. Zudem frischt der Wind ein wenig auf. Aber als Küstenkind bin ich Schietwetter ja gewöhnt 🙂

Doch trotz der herbstlichen Vorboten verstecken sich viele Häuser und Uferareale hinter dem dichten Blätterwerk der Bäume, sodass die angepriesenen Sehenswürdigkeiten unseres Tourguides nur vage zu erkennen oder gar nur zu erahnen sind. So auch bei der blau-weiß getünchten Synagoge am heutigen Fraenkelufer. Wie so viele andere Synagogen und jüdische Geschäfte wurde das Gotteshaus in der Pogromnacht im November 1938 schwer beschädigt. Vermutlich wäre es ganz niedergebrannt, wenn nicht die Feuerwehr, so erzählt uns der Tourguide, letztlich doch eingegriffen hätte – um die Schule in direkter Nachbarschaft der Synagoge zu schützen.

Besuch beim Holocaust Mahnmal in Berlin-Mitte

Um die dunkle Vergangenheit Deutschlands geht es auch beim Besuch des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Das Holocaust Mahnmal wurde bereits 2005 eingeweiht. Seltsam, dass ich heute zum ersten Mal hier bin. Wobei es mir durch die Fotos und Videos, die ich davon gesehen habe, sehr vertraut vorkommt, als ich mich vom Brandenburger Tor nähere. Recht unbedarft steuere ich auf die grauen Betonklötze zu, die in unterschiedlicher Höhe in den heute blauen Himmel aufragen. Nachdem ich die ersten Betonstehlen passiert habe, geschieht etwas mit mir, in mir. Ein mulmiges Gefühl überkommt mich, wird immer stärker, je höher der graue Beton neben mir wird. Es ist beklemmend. Jeder Schritt fühlt sich plötzlich bleiernd an, bedrückend. Um uns herum die bunten Farben: der blaue Himmel über mir, das Grün der Bäume neben dem Denkmal  – und „hier drinnen“ trostloses Grau. Eine surreale Kulisse und ein seltsames Erlebnis, mit dem ich nicht gerechnet habe.

Aber vermutlich hat auch nicht jeder diese Gefühle beim Durchlaufen des Mahnmals – man muss sich schon auf die Gedenkstätte einlassen. Vielleicht hilft es, dass heute Montag ist,  noch vor neun Uhr und ich kaum andere Besucher treffe. Vielleicht ist mein Erlebnis auch dem Umstand geschuldet, dass ich die KZ-Gedenkstätten Auschwitz und Birkenau besucht habe; auch wenn es bereits viele Jahre her ist. 1999 habe ich als Journalistin eine Jugendgruppe dorthin begleitet, die sich eine Woche der deutschen Geschichte gestellt hat, durch Besuche in den ehemaligen Konzentrationslagern, Gespräche mit Zeitzeugen und Recherche zu speziellen Themen- bereichen. In dieser Woche habe ich Eindrücke und Erfahrungen gesammelt, die mich bis heute begleiten – und in Momenten wie diesem hier, beim Erkunden des Holocaust-Mahnmals, wieder präsenter werden.

Dass nicht jeder dieser Erfahrungen beim Besuch des Denkmals macht, bestätigt auch das Gespräch mit der freundlichen Dame vom Sicherheitsdienst. Unermüdlich läuft sie vor den quadratischen Betonklötzen auf und ab. Mit ihr komme ich ins Gespräch und sie erzählt, dass sie Besucher immer wieder auf die Besucherordnung hinweisen muss. Leute würden auf den Betonstehlen herumturnen, von Klotz zu Klotz springen, mit dem Fahrrad durch die schmalen Wege fahren oder ihren Hund hier Gassi führen. „Sie wissen einfach nicht, dass das hier ein Mahnmal ist“, meint sie und wirkt, als habe sie sich damit bereits abgefunden. Die Leute würden es für eine Art Sport- oder Spielplatz halten. Nachdenklich betrachte ich die grauen Stehlen – ein Sportplatz?

Es gibt noch zwei weitere Gedenkorte für die Opfer des Naziregimes. Sie liegen in unmittelbarer Nachbarschaft und erinnern einmal an die Roma und Sinti und einmal an die Homosexuellen, die von den Nazis verfolgt wurden. Letzteres ist ein Betonquader. Durch ein Sichtfenster kann der Besucher einen Film ansehen und auf einer Infotafel wird über die Verfolgung der Homosexuellen berichtet.

Der Sommer ist zu Ende

Seit dem 23. September sind wir offiziell im Herbst – nach meteorologischer Sicht sind wir es schon seit dem 1. September. So oder so: der Sommer ist für dieses Jahr zu Ende und somit auch meine Sommerserie. Die Fotos der Tour durch Berlin findest Du wie gewohnt in meinen Fotowelten/Sommerserie/Tatort Nord: Berlin. Viel Spaß beim Stöbern!

Die Ideen für die Sommerserie 2019 sind auch schon fleißig am Sprudeln 🙂 Für Mitte Dezember ist aber erst einmal ein Winterspecial geplant. Es lohnt sich also, hier wieder vorbeizuschauen.