74 Jahre ist die Befreiung der Konzentrationslager des Nazi-Regimes in Auschwitz und Birkenau im heutigen Polen her. Die erschütternden Schwarz-Weiß-Videos und Fotos über die Gräuel und das Leid, die sowjetische Soldaten am 27. Januar 1945 bei der Befreiung gemacht haben, kennen wohl die meisten von uns; gesehen im Geschichtsunterricht in der Schule oder im Rahmen einer Dokumentation im Fernsehen, in den Nachrichten.

Zäune und Stacheldraht im ehemaligen KZ Auschwitz.

Selbst war ich Ende der 1990er Jahre zu Besuch in den Gedenkstätten Ausschwitz und Birkenau; ehrlich gesagt ziemlich spontan. Damals arbeitete ich bei einer Tageszeitung und vertrat eine Kollegin, die kurzfristig verhindert war. Mein Auftrag: Als Journalistin eine Jugendgruppe begleiten, die für eine Woche nach Polen fuhr, das „übliche Programm“ im Gepäck. Besuch bei den Gedenkstätten, mit Zeitzeugen sprechen, sich mit der Nazi-Vergangenheit auseinandersetzen. Zwischen Anfrage der Redaktion und Abfahrt blieb mir gerade genug Zeit, einen vorläufigen Reisepass zu organisieren und meinen Terminkalender freizuschaufeln.

Unbedarft, geradezu naiv, war ich bei der Fahrt. Es geht nicht um mich, dachte ich, ich sollte schließlich über die Erlebnisse der Jugendlichen berichten, aufschreiben, was sie fühlten, dachten, erlebten. Zuschauen, nicht aktiv dabei sein. Ganz professionell eben. Dabei war ich selbst erst Anfang 20, kaum älter als die Jugendlichen, und konnte mir gar nicht vorstellen, dass mich die Eindrücke mein Leben lang begleiten würden. Natürlich nicht täglich, aber immer wieder erinnere ich mich an den Besuch; vor allem in Birkenau.

Beim Anblick dieses Schildes überkam mich ein Frösteln – Grauenvolles hat sich hinter dieser Tür zugetragen.

Ich erinnere mich, dass ich es die ersten Tage auch recht pragmatisch an die Sache herangegangen bin. Zusehend, zuhörend, was treibt die Jugendlichen um, wie erleben sie die Situation? Zunächst besuchten wir das Stammlager in Ausschwitz. Mich überkam zwar ein mulmiges Gefühl, als ich mich dem eisernen Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ näherte. So oft hatte ich es schon im Fernsehen gesehen, in Filmen und Dokumentationen, auch in Büchern, als Symbol für das Schrecken der Lager. Diese höhnischen, furchtbaren drei Worte. Doch der Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers selbst glich dem eines Museums. Die Koffer, Brillen, Haare, Schuhe – alles, was die Nazis den Insassen bei ihrer Ankunft weggenommen hatten, lag in Auszügen hinter Glas. Bilder der Häftlinge, deren verängstigten Blicke unter die Haut gehen, hingen an der Wand, in Rahmen, ebenfalls meist hinter Glas.

Für den Besuch im rund drei Kilometer entfernten Lager Birkenau war ein ganzer Tag angesetzt. Zu Fuß ging es von unserer Unterkunft zum ehemaligen KZ. Ich erinnere mich an eine große Betonbrücke, lärmenden Autoverkehr, viel Grau. Und dann standen wir auf den Eisenbahnschienen, die unweigerlich auf das Tor von Birkenau zuliefen. Einige Jugendliche liefen auf den Schienen, andere bewusst daneben, die meisten schwiegen. Vielleicht aus Ehrfurcht vor diesem Ort? Vielleicht aus der Befürchtung heraus, dass der Besuch in Birkenau ebenso beklemmend wie der im KZ Ausschwitz sein würde? Vielleicht ein Stück weit, um sich auf die Situation vorzubereiten. Ich schwieg auch, nur das Klicken meiner Kamera war zu hören. Den Moment festhalten.

Überreste eines der Krematorien.

Auch im ersten Teil des Rundgangs machte ich meinen Job. Ich machte Fotos, kritzelte Notizen auf meinen Block; über das, was wir sahen, was die Jugendlichen sagten oder fragte. Natürlich bekam auch ich einen Kloß im Hals, als wir in einer einfachen Baracke standen und die Frau, die mit uns den offiziellen Rundgang machte, über die damalige Zeit erzählte. Schilderte, wie viele Menschen in diesen Baracken zusammengepfercht waren, wie der schwere Alltag ausgesehen hat. In der Baracke mit den Latrinen las sie uns ein Gedicht von einer Ausschwitz-Überlebenden vor. Das Gedicht selbst erinnere ich nicht, auch nicht den Inhalt, aber an den Kloss in meinem Hals, an den Drang, aufzuschreien und wegzulaufen. Natürlich blieb ich, hielt kurz inne, machte dann meine Fotos und kurze Notizen. Die Kameralinse als Puffer, als Schutzschild zwischen mir und den Gräueltaten.

Trügerische Idylle auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Birkenau.

Nach den Baracken liefen wir über das Gelände, über breite Sandwege, vorbei an grünem Gras, blühenden Birken, in denen Vögel zwitscherten. Es waren Osterferien und der Frühling zauberte sein frisches Grün in die Landschaft. Das war der Moment, in dem mich die Emotionen überkamen. Ich erinnere mich genau an diesen Augenblick, in dem ich einfach nur dastand, die Kamera sinken ließ und die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Diese Dimension. Wir liefen und liefen, und das Gelände schien kein Ende nehmen zu wollen. Kaum vorstellbar, wie viele Menschen hier leiden mussten. Dazu die grünen Birken, dessen jungen Blätter hoffnungsfroh leise im Wind rauschten, das fröhliche Vogelgezwitscher, der blaue Himmel über uns. Diese Idylle. Und plötzlich stehst Du neben einem Schild, auf dem ein großes Foto zeigt, dass auf der wunderschönen Wiese vor dir damals Leichen verbrannt wurden. Sicher sind genau an diesem Fleck, auf dem ich gerade stehe, Menschen gestorben, dachte ich und hätte mich gerne woanders hingestellt, aber dort sind sicher auch Menschen gestorben, ebenso wie auf dem Grünstreifen neben uns, der Wiese vor uns.

Es war die Fassungslosigkeit, die mich in diesem Moment überkam. Das Ausmaß des Holocaust, das plötzlich greifbarer zu sein schien, als in den vielen Jahren im Geschichtsunterreicht, und deshalb umso unfassbarer wurde. Wie können Menschen anderen Menschen so etwas Grauenvolles, für das mir weiter die Worte fehlen, antun; damals und danach? Ich verstaute die Kamera in der Tasche, genauso den Notizblock. An weitere Fotos war nicht zu denken. Ich war einfach nur in Tränen aufgelöst, weil ich das Gesehene emotional nicht greifen konnte, nicht einordnen, es war einfach nur groß und schrecklich und überwältigte mich.

Etwas über zwei Stunden dauert der geführte Rundgang und die Frau, die uns herumführte, meinte zum Abschluss, dass sie selbst ganz bewegt sei, weil unsere Gruppe so betroffen und emotional reagiert habe – ich war in der Tat nicht die einzige, der die Tränen gekommen sind. Das komme, so meinte sie weiter, nicht so häufig vor. Eine andere Jugendgruppe läuft an uns vorbei. Alle in derselben blauen Regenjacke, die Jungs haben eine Kippa auf dem Kopf. Sie lachen, unterhalten sich laut, haben Chipstüten und Getränkedosen in der Hand.

Die Gesprächsrunde, in der sich unsere Gruppe abends über das Erlebte austauschte, fiel an diesem Tag aus. Erst einmal alleine die Gedanken sortieren, überdenken, verarbeiten.

Und heute? Heute ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Ein Tag, an dem der Millionen Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird. Ein Tag, an dem Kränze niedergelegt werden. An dem Reden gehalten und dazu ermahnt wird, dieses dunkle Kapitel der Geschichte nicht zu vergessen. Aber haben wir Menschen wirklich gelernt? Ruanda, Srebrenica in Bosnien, die Rohingya in Myanmar – und das sind nur einige Beispiele. Setzen wir wirklich alles daran, damit sich die Geschichte nicht wiederholt?

Jede Birke, die ich sehe, erinnert mich noch heute an Birkenau.