Frage: Was ist hier zu sehen? Reste eines Polterabends? Die Auslage im Souvenirshop? Das Ergebnis eines Bastelworkshop?

Die Antwort findet sich auf Guernsey, der zweitgrößten Kanalinsel. Genauer gesagt in Saint Andrew. Hier steht ein ganz besonderes Schmuckstück: The Little Chapel. Das Außergewöhnliche an der kleinen Kirche ist ihr Wandschmuck: Liebevoll sind hier Muscheln, Kieselsteine sowie kleine und größere Porzellanscherben, mal mit bunten Mustern, mal mit Prominenten wie Queen Elizabeth, mal traditionell in blau-weiß, arrangiert worden. Sie schmücken Wände, Decke und sogar den Fußboden. Nicht nur im Innern ist so ein außergewöhnliches Kunstwerk entstanden, auch von außen ist die „Little Chapel“ Zentimeter für Zentimeter mit der bunten Zierde geschmückt.

Anfangs wäre ich beinahe an ihr vorbeigelaufen, denn die kleine Kirche ist aktuell von einem Gerüst umgeben und darunter gut versteckt. Die Restauration ist notwendig, so die Aushangtafel, weil Besucher immer wieder Porzellanscherben und Muscheln mitnehmen. Wer kommt denn bitte auf die Idee, kleine Scherben aus dem Putz zu kratzen? Gut, die Diskussion, ob „The Little Chapel“ mehr Kitsch als Kirche ist, wäre nicht gerade aus der Luft gegriffen. Aber selbst ohne religiösen Bezug finde ich den Gedanken, sich ein Souvenir aus der Wand zu „prokeln“, ausgesprochen befremdlich. Es stellt sich auch keiner im Louvre in Paris vor die Mona Lisa, um von Leonardo da Vincis Kunstwerk ein Stückchen mit der Nagelschere herauszuschneiden. Auch am Buckingham Palast habe ich noch keine Scharen von Touristen gesehen, die mit kleinem Meißel anrücken, um sich ein Andenken aus den Palastmauern zu schlagen. Ob sich solche Souvenirjäger auf der Chinesischen Mauer finden lassen oder im peruanischen Machu Picchu kann ich nicht sagen, da ich bisher leider nicht dort war. Aber gerade die Chinesische Mauer, so wurde mir erzählt, sei ständig so überfüllt, dass man in dem Gedränge ohnehin keine Ruhe für Meißelarbeiten hätte. Aber Menschen kommen offenbar wirklich auf die verrücktesten Ideen!

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Wie viele Muscheln und kleine Steine finden sich wohl hier?

Trotz der Renovierungsarbeiten bin ich an diesem Nachmittag keineswegs alleine in dem kleinen Gebäude. In einem kontinuierlichen Fluss kommen und gehen die Touristen in dem kleinen bunten Häuschen, bleiben an der einen oder anderen Stelle kurz stehen, um eine der Scherben oder Muscheln genauer zu betrachten, lesen die Hinweistafel auf dem Altar, hier bitte keine Kerzen oder Gaben hinzustellen, machen ein, zwei Fotos und anschließend dem nächsten Tourist Platz. Alles in der für Kirchen gebotener Stille.

Mit einer Besucherin komme ich dennoch ins Gespräch, nachdem wir eine Weile schweigend die Pracht an Decke und Wänden bewundert haben. Sie fragt, ob ich aus Deutschland komme. Nein, meint Akzent klinge nicht danach, winkt sie ab: Meine laut ausgesprochene Frage, wie viele Scherben und Steine hier wohl verarbeitet wurden, hätten sie meine Herkunft erahnen lassen. Irgendwie fühle ich mich ertappt. Ist das ein „typisch deutscher“ Gedanke? Sind Italiener, Schweden oder Japaner auf solch eine Antwort nicht neugierig? Weitere Gedanken darüber mache ich mir allerdings nicht, denn die Frau erzählt, dass das eine ganz besondere Reise für sie ist. Vor über 30 Jahren sei sie schon einmal hier gewesen, mit ihrer ersten großen Liebe. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, bei der Erinnerung daran, und verschwindet jäh wieder, als sie weitererzählt, dass er vor drei Jahren verstorben sei. Sie sei nach Guernsey gekommen, um sein Grab zu besuchen, die vielen gemeinsamen Orte in Erinnerung an die gemeinsame Zeit und Abschied zu nehmen. Es sei eine ganze besondere Reise für sie.

Ich lasse sie alleine, damit sie für ein Weilchen in Ruhe erinnern und Abschied nehmen kann.